Samstag, 31. Oktober 2015

Lesestoff zum Wochenende: Menschen, Bildung und Bücher...

... Seite 285

Die Rezeption der dichterischen Werke des deutschen Hochmittelalters erfolgte im Detail erst im Zeitalter der Romantik. Es wurde nach Quellen gesucht (wie es z. B. die Brüder Grimm taten, die Entdecker des „Codex Manesse“ 1815 in der Königlichen Bibliothek zu Paris), Übersetzungen und Nacherzählungen angefertigt und veröffentlicht (z. B. Ludwig Tieck(1773-1853)) sowie die Zeit ihrer Entstehung und die Personen beleuchtet (z. B. Ludwig Uhland (1787-1862)). 

Das Nibelungenlied

Eine weitere Dichtung, das „Nibelungenlied“ („Siegfried, der Drachentöter“), welches in drei Handschriften überliefert ist und deren Entstehung sich in das 13. Jahrhundert datieren lässt, erlangte im 19. Jahrhundert sogar quasi den Status eines Nationalepos der Deutschen. Leider gehört es heutzutage wie viele andere „Klassiker“ nicht mehr in allen Fällen zur obligatorischen Schulbildung. Das erklärt, warum ein nicht unerheblicher Teil der heutigen Schülergeneration mit diesem frühen deutschen Epos (man datiert die Handlung in das 10. bis 11. Jahrhundert) nichts anfangen kann. Das ist schade, denn etwas aufgearbeitet sind die darin erzählten Geschichten sicherlich nicht weniger spannend als diejenigen eines „Harry Potter“ oder „Herr der Ringe“.


Aber vielleicht machen den Geschichts- und Literaturinteressierten die Eingangsworte, die hier wieder in Mittelhochdeutsch zitiert werden sollen, neugierig, mehr über dieses Epos und über dessen Zeit zu erfahren:

Uns ist in alten mæren 
wunders vil geseit
von helden lobebæren, 
von grôzer arebeit,
von freuden, hôchgezîten, 
von weinen und von klagen,
von küener recken strîten 
muget ir nû wunder hœren sagen.

Im Nibelungenlied werden verschiedene Sagenkreise zusammengeführt. Das Ganze zerfällt dabei in zwei große Teile, deren erster bis zur Ermordung Siegfrieds durch Hagen von Tronje und deren zweiter von Kriemhilds Heirat mit Etzel (der von der Geschichtswissenschaft mit dem Hunnenkönig Attila aus der Zeit der Völkerwanderung identifiziert wird) bis zur Erfüllung ihrer furchtbaren Rache reicht. Von den Verfilmungen möchte ich hier nur diejenige von 1924 erwähnen, die unter der Regie von Fritz Lang (1890-1976) entstand und ohne Zweifel mit zu den Klassikern der Filmgeschichte gehört. Fritz Lang haben wir bereits als Regisseur von „Dr. Mabuse, der Spieler“, kennengelernt. Seine Filme aus den 20er Jahren bewegten sich genau in der Zeit des Übergangs vom Stummfilm zum Tonfilm, wobei die beiden Nibelungenfilme „Siegfried“ und „Kriemhild’s Rache“ noch als Stummfilme, jedoch mit eingeblendeten Texttafeln, konzipiert waren. 

Die Ausstattung der Filme war überwältigend, die Charaktere fein gezeichnet (auch von der Kleidung her), das Stimmungsgemälde mittelalterlich-düster - und viele, für die damalige Zeit atemberaubende Spezialeffekte (beispielsweise Siegrieds Kampf mit dem Drachen) sowie die Nähe zum literarischen Original (das damals natürlich die meisten Filmbesucher kannten) machten das Werk zu einem großen Kinoerfolg. Wer will, kann sich übrigens beide Teile auf Youtube ansehen. Ob man nun als deutschsprachiger Bildungsbürger in der heutigen Zeit unbedingt das „Nibelungenlied“ gelesen haben muss, sei dahingestellt. Aber es gibt durchaus so etwas wie einen Kanon von nationaler und Weltliteratur, die einen unabdingbaren Kern von Bildung vermitteln und die man zu Lesen nicht nur in Erwägung ziehen sollte. Hierbei kann es sogar ganz gut sein, dass man als Schüler quasi gezwungen wird, sich zumindest einmal im Leben mit einigen der darin aufgeführten Werke auseinandersetzen zu müssen.

Humboldt‘sches Bildungsideal

In diesem Zusammenhang sei auf das sogenannte „Humboldt’sche Bildungsideal“ hingewiesen, welches nach Ende der Befreiungskriege in Preußen die „höhere Bildung“ maßgeblich geprägt hat und bis heute - nicht nur in Deutschland, sondern in besonders reiner Form in den amerikanischen Eliteuniversitäten - in der Einheit von Forschung und Lehre weiterlebt (obwohl sie im „Bologna-Prozess arg konterkariert wird).


An der Stelle ist es vielleicht interessant noch einmal an dasjenige zu erinnern, was Wilhelm von Humboldt (1767-1835) unter „Bildung“ versteht: 

Es gibt schlechterdings gewisse Kenntnisse, die allgemein sein müssen, und noch mehr eine gewisse Bildung der Gesinnungen und des Charakters, die keinem fehlen darf. Jeder ist offenbar nur dann ein guter Handwerker, Kaufmann, Soldat und Geschäftsmann, wenn er an sich und ohne Hinsicht auf seinen besonderen Beruf ein guter, anständiger, seinem Stande nach aufgeklärter Mensch und Bürger ist. Gibt ihm der Schulunterricht, was hierzu erforderlich ist, so erwirbt er die besondere Fähigkeit seines Berufs nachher sehr leicht und behält immer die Freiheit, wie im Leben so oft geschieht, von einem zum andern überzugehen“. 

Und was das wichtigste ist, nach Wilhelm von Humboldt soll jedem Menschen die Chance gegeben werden, einen Grundstock an Bildung zu erwerben, welches er dann nach Talent und Fähigkeiten stufenweise (und wenn er es sich nicht leisten kann, gefördert durch Stipendien) erweitern kann bis hin zur „höheren“ universitären Bildung. So schreibt er: 

Das höchste Ideal des Zusammenexistierens menschlicher Wesen wäre mir dasjenige, in dem jedes nur aus sich selbst und um seiner selbst willen sich entwickelte.“ 

Bildung bedeutet in diesem Sinn nicht nur Teilhabe am Wissen der Welt und dessen Reflektion für sich als Individuum. Es bedeutet auch Orientierung, die Entwicklung eines historischen Be-wusstseins, die Fähigkeit und der innere Wunsch, sich selbst zu bilden (der „Gebildete“ ist ein Leser), sie ist darüber hinaus ein Quell der Selbsterkenntnis und ermöglicht Selbstbestimmtheit und sollte auch mit moralischer und ethischer Integrität einhergehen. Denjenigen Teil der „humboldtschen Bildung“, welche die „Geisteswissenschaften“ betrifft, hat der Literaturwissenschaftler Dietrich Schwanitz (1940-2004) in seinem viel beachteten und teilweise auch zu recht kritisierten Buch „Bildung. Alles was man wissen muss“ sehr schön und unterhaltsam zusammengestellt (gibt es auch als Hörbuch!).



Es kann deshalb durchaus als Wegweiser zu einer umfassenden Bildung empfohlen werden. Was aber fehlt, ist eine Zusammenstellung der mindestens genauso wichtigen mathematisch-naturwissenschaftlichen Bildungsinhalte. Diese wurden dann etwas später u. a. von dem Wissen-schaftshistoriker Ernst Peter Fischer mit dem Buch „Die andere Bildung“ nachgereicht. Heute, wo das Wort und die Forderung nach „mehr Bildung“ so etwas wie ein geflügeltes Wort von Politikern aller Couleur geworden ist, beobachtet man bei aufmerksamer Betrachtung eher eine schleichende Abkehr vom humboldtschen Bildungsideal, welches Deutschland für fast zwei Jahrhunderte (mit Unterbrechungen) eine führende Position in Kultur und Wissenschaft eingebracht hat. Das beginnt damit, dass dem zeitlichen Vorrang der allgemeinen Bildung gegenüber einer beruflichen Bildung immer weniger Gewicht beigemessen wird. Natürlich muss weiterhin diskutiert werden - auch in Hinblick auf die technischen Möglichkeiten, die einem gegenwärtig zur Verfügung stehen - welche Inhalte zur allgemeinen Bildung zu zählen sind. Dass das heute wie zu Humboldts' Zeiten nicht mehr allein Philosophie, Philologie und Geschichte sein können, versteht sich quasi von selbst. Aber das sollte kein Grund sein, diese Fächer zu vernachlässigen. Die immer mehr zu beobachtende Ökonomisierung der Bildungsinhalte nach dem Motto, nur das Wissen ist nützlich, welches dem Arbeitsmarkt nutzt, kann bei genauer Betrachtung zu einer fatalen Fehlentwicklung führen. Sie äußert sich in einem Verkommen von Universitäten in reine Lehranstalten, in einer staatlichen Einflussnahme in Bildungsinhalte (man denke an das Abwürgen von Studiengängen in Bezug auf die KKW-Technik), in einer mehr und mehr staatlichen Untergrabung der universitären Selbstverwaltung durch drehen am Geldhahn sowie an der Berechnung von „Bildungsrenditen“, die letztendlich ein Ausdruck dafür sind, dass es anscheinend nur noch um den ökonomischen Nutzen von Bildungsabschlüssen geht. Aber das ist alles leicht gesagt. Ein Problem ist der politische Anspruch, möglichst jeden zur Hochschulreife zu führen, was gegenwärtig den hohen Schulen kaum zu bewältigende Studentenzahlen beschert und die individuelle Förderung von Talenten eher erschwert. Aber dieses Problem wird sich in den nächsten Jahrzehnten aufgrund der Demografie von selbst erledigen. Es wäre also eine gute Zeit, sich wieder an Wilhelm Humboldt zu erinnern und die letztendlich fatale und politisch gewollte Tendenz zu einer Niveauabflachung von Bildungsinhalten sowie die Schonhaltung im Bildungsbetrieb aufzugeben, aber auch - und das empfinde ich als besonders wichtig - die nichtakademischen Bildungsabschlüsse in ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz zu stärken. 

Wissensgesellschaft

Es wird immer wieder kolportiert, dass wir alle heute in einer „Wissensgesellschaft“ leben, aber vergessen, das Wissen und Bildung genaugenommen zwei verschiedene Paar Schuhe sind. Die Inhalte beider Begriffe widersprechen sich selbstverständlich nicht, aber grundsätzlich ist Wissen auch ohne Bildung möglich (der Rückkehrschluss gilt dagegen nicht - Bildung setzt „Wissen“ voraus). Dank der technologischen Hilfsmittel, z. B. festgemacht am Internet und dem mittlerweile überall omnipräsenten Smartphone, kann man heutzutage auf "Wissen" jederzeit zugreifen, ohne es selbst intellektuell erarbeitet, hinterfragt und durchdacht zu haben. Zurzeit ist bekanntlich die Google-Brille aktuell, über die sich bei Bedarf Wissensinhalte aus dem unermesslichen Fundus des Internets „aufblenden“ lassen - und es gibt bereits erste Überlegungen, die Funktionsweise dieser Brille auf eine Kontaktlinse auszulagern.


Ohne entsprechende Augenkontrolle wäre das dann z. B. der Tod von Quizsendungen wie „Wer wird Millionär“ und auch die Prüfungskultur des Bildungswesens wäre mit solch einer „Kontaktlinse“ gefährdet. Mit derartigen technischen Hilfsmitteln kann dann auch ein „Ungebildeter“ zum „Wissenden“ werden. Er ist dann eher vergleichbar mit Kim Peek, der zwar aufgrund seiner Inselbegabung eine ganze Bibliothek auswendig daher sagen, deren Inhalte und Zusammenhänge jedoch nicht oder kaum verstehen konnte. Aber wie alles im Leben gibt es auch noch eine andere Sichtweise, denn genau solch ein externer Wissensspeicher kann einem Gebildeten, der gelernt hat, seinen Verstand zu gebrauchen, ein überaus nützliches Werkzeug sein. Er unterscheidet sich jedoch von den „ungebildeten Gelehrten“ (wie ihn der Philosoph Peter Bieri einmal genannt hat) dadurch, dass er die Informationen kritisch werten, sie in größere Zusammenhänge einordnen und daraus Motivationen für weitere „Forschungen“ ableiten kann mit dem Ziel, dieses Wissen letztendlich in Besitz zu nehmen. 

Internet

Deshalb ist es wirklich wichtig, dass man lernt, das Internet „kritisch“ zu nutzen, denn es ermöglicht mittlerweile einen schnelleren und unkomplizierteren Zugriff auf gesammeltes „Wissen“ als es „klassische“ Bibliotheken vermögen. Was ich besonders schätze, das Internet bringt einen mit arxive.org, Google Scholar, Google Books, der Deutschen Digitalen Bibliothek und der Europeana (um nur ein paar der „Perlen“ zu nennen) quasi ganze Bibliotheken direkt an seinen Computerarbeitsplatz. Mich interessieren dabei insbesondere digitalisierte ältere Bücher, z. B. über Heimatgeschichte, die man nun Dank der Digitalisierung ganzer Bibliotheken ohne die Wohnung oder den Arbeitsplatz zu verlassen, recherchieren, einsehen und sich oft auch herunterladen (und natürlich auch „lesen“!) kann. 

Menschen und Bücher

Das Verhältnis der Menschen zu Büchern war schon immer etwas ambivalent. So gibt es Menschen, die seit ihrer Schulzeit (außer vielleicht der Bibel oder einem Kochbuch) nie wieder ein Buch angefasst haben. Anderen Menschen reicht es aus, immer wieder nur in einem Buch zu lesen (wie dem Koran), weil sie meinen, dort steht alles drin, was man wissen muss. Und für wieder andere stehen Bücher mit im Mittelpunkt ihres Lebens. Soziologisch kann man sie in ihrem Verhältnis zu Büchern in drei Kategorien einteilen: in bibliophile, in bibliophage und in bibliomane Bücherfreunde. Wer mit diesen lateinischen Adjektiven nichts so recht anzufangen weiß, hier nochmal die Übersetzung: der „Bibliophile“ liebt Bücher (was nicht unbedingt bedeutet, dass er sie auch liest), der „Bibliophage“ verschlingt Bücher regelrecht, er ist ein Bücherwurm, und der „Bibliomane“ ist versessen nach Büchern, die er oft in so großen Mengen in seiner Privatbibliothek anhäuft, dass er Hunderte Leben bräuchte, um sie alle zu lesen. In manchen Fällen kann es sogar schwierig sein, jemanden auf diese Weise zu kategorisieren, denn die Grenzen zwischen Bücherfreunden, „Bücherwürmern“ und Büchernarren sind bekanntlich unscharf. Nehmen wir den Bücherwurm, also jemanden, der ein pures Vergnügen darin findet, Bücher zu lesen. Fausts‘ Famulus mit Namen „Wagner“ war sicherlich einer von ihnen, denn Goethe hat ihn sagen lassen:

Man sieht sich leicht an Wald und Feldern satt,
Des Vogels Fittig werd’ ich nie beneiden.
Wie anders tragen uns die Geistesfreuden,
Von Buch zu Buch, von Blatt zu Blatt!
Da werden Winternächte hold und schön,
Ein selig Leben wärmet alle Glieder,
Und ach! entrollst du gar ein würdig Pergamen;
So steigt der ganze Himmel zu dir nieder.





Eine mehr skurrile Form eines „Bücherwurms“ hat der bekannte Münchner Maler Carl Spitzweg (1808-1885) auf mehreren seiner Gemälde hinterlassen. Sie zeigen eine kauzige, etwas entrückt wirkende Person auf einer Trittleiter inmitten einer Bibliothek, dabei stur in einem nahe vor die Nase gehaltenen Buch lesend, während die andere Hand ein weiteres Buch hält und ein Drittes, unter dem linken Arm geklemmt, herauszurutschen droht.


Charles Nodier, ein Vertreter der französischen Romantik, hat einen anderen, eher pathologischen Fall in seiner Novelle „Le Bibliomane“ beschrieben, in der sein Held Theodore bei Frauen nur noch auf deren beschuhten Füße zu schauen vermochte - und zwar nicht etwa in der Art eines krankhaften Schuhfetischisten, sondern mit dem Gedanken „Schade um dieses ausgezeichnete Leder. Was für einen schönen Bucheinband hätte man daraus machen können!“. Viele „Bücherwürmer“, von denen sich Überlieferungen erhalten haben, lebten sehr bescheiden, um ihrem Zwang zu lesen, frönen zu können. Viele Bibliomane dagegen gehörten eher den reicheren Bevölkerungsschichten an, die wiederum ihr ganzes Geld in den Aufbau ihrer Bibliothek steckten und die immer auf der Suche nach neuen, möglichst bibliophilen Kostbarkeiten waren. 

Bibliomane Mörder

Auch hier haben sich einige skurrile Geschichten aus der Vergangenheit überliefert, so z. B. von dem Magister Johann Georg Tinius, der 1764 in Staakow in der Niederlausitz geboren wurde. Ihn machte seine exzessive Büchersammelsucht zu einem Mörder, was ihm nach einem viel beachteten Indizienprozess viele Jahre Zuchthaus einbrachte. Ich kann hier natürlich diesen speziellen Justizfall nicht in seiner Gänze würdigen. Wen es interessiert - Internet sei Dank - kann den entsprechenden Bericht in der „Zeitschrift für die Criminal-Rechts-Pflege in den Preußischen Staaten mit Ausschluss der Rheinprovinzen“, Jahrgang 1830 (29. Heft), unter Google Books einsehen. Das dort ausführlich beschriebene Tötungsdelikt an der „Wittwe Kunhardt“ war eines der ersten größeren Indizienfälle, die mit einer Verurteilung des Täters, eines immerhin hochangesehenen Pfarrers und manischen Buchliebhabers, endete. Der mutmaßliche Grund war, der Magister brauchte Geld, um weitere Bücher zu erwerben... Er versuchte dabei etwas ähnliches, was wir heute in der kriminalistischen Fachsprache „Enkeltrick“ nennen. So besuchte er am 8. Februar 1812 mit dem Vorwand, einen Brief zu überbringen, die offensichtlich vermögende Witwe Kunhardt. Im Brief erbat ein der Witwe Unbekannter 1000 Taler, die sie dem Briefüberbringer aushändigen möge. Dazu kam es aber offensichtlich nicht. Am Ende lag die am Kopf schwerverletzte 75jährige Dame bewusstlos und blutüberströmt in ihrem Lehnstuhl, wo sie dann ihre Haushälterin fand. Sie kam noch einmal kurz zu Bewusstsein, so dass sie noch ein paar vage Angaben machen konnte bis sie schließlich an den ihr zugefügten Verletzungen verstarb. Die Kriminalbehörde von Leipzig (wo die Tat stattfand) ermittelte ziemlich schnell den Pfarrer und Herrn Magister Tinius als möglichen Täter und nahm ihn ohne viel Aufheben zu machen in Haft. Bei der Untersuchung des Falls geriet noch ein weiterer Mordfall, und zwar derjenige an dem Leipziger Kaufmann Schmidt eine Woche zuvor (18. Januar 1812), in das Rampenlicht der Ermittler. Da der Magister hartnäckig die Taten leugnete (er hat sie übrigens zeitlebens nie zugegeben), entwickelte sich ein extrem langwieriger Indizienprozess, der genau in die Zeit der Zweiteilung Sachsens fiel, was zu vielfältigen bürokratischen Schwierigkeiten und Verzögerungen Anlass gab. 1820 wurde Tinius schließlich in erster Instanz und 1823 in zweiter Instanz gemäß der Indizienlage im Mordfall „Witwe Kunhardt“ für schuldig gesprochen. Der Mord am Kaufmann Schmidt konnte ihm jedoch nicht rechtssicher bewiesen werden. Und so steckte man ihn für die nächsten zwölf Jahre ins Zuchthaus (die Untersuchungshaft wurde nicht angerechnet), wo er dank seines phänomenalen Gedächtnisses und weitab seiner bereits verscherbelten Bibliothek noch ein bombastisches Werk über die „Offenbarung des Johannes“ verfasste. Mit einundsiebzig Jahren kam er schließlich frei und starb als 82jähriger im Jahre 1846 nicht ohne noch zwei weitere Werke theologischen Inhalts zu hinterlassen. 

Die Geschichte kennt noch einige weitere „Buchfreunde“, die auch zu Mördern wurden. So der katalanische Mönch Don Vincente, der durch das kurze Erstlingswerk des damals (1837) 16jährigen Gustave Flaubert (1821-1880) mit dem Titel „Bibliomania“ einen gewissen Bekanntheitsgrad erreichte. Auch seine Geschichte soll nur kurz angerissen werden. Don Vincente, den es, nachdem sein Kloster geplündert worden war, nach Barcelona verschlug, eröffnete dort eine Buchhandlung. Dabei interessierte ihn der Inhalt der Bücher so gut wie gar nicht, nur ihr bibliophiler Wert hatte für ihn Bedeutung. Je seltener ein Buch war, desto größer war auch sein Wunsch, seiner habhaft zu werden. Und in dieser Hinsicht war er alles andere als zimperlich. Als es 1836 im Barcelona zu einer Serie grausamer Morde kam, ahnte noch niemand, dass ein besessener Buchhändler den Dolch in der Hand geführt hat. Da es sich ausschließlich um angesehene und gebildete Opfer handelte, nahm man zuerst an, dass es sich um Auftragsmorde der ihrer Macht beraubten geheimen Inquisition handelt. Und so begann man Personen, die als mögliche Mitglieder dieser Geheimorganisation infrage kamen, genauer zu inspizieren. Einer davon war Don Vincente selbst. Bei einer unerwarteten Durchsuchung seines Buchladens fand man prompt das Buch – ein besonders wertvolles Unikat – das nachweislich dem Buchhändler Patxot gehörte, der einige Zeit zuvor samt seinen Büchern in seinem Haus verbrannt war. Weitere Nachforschungen und Verhöre konnten schließlich Don Vincente des zehnfachen Mordes überführen, was er schließlich unter der Last der Beweise auch zugab. Damit war das „Ungeheuer von Barcelona“ enttarnt und konnte vor Gericht gestellt werden. Als Begründung für seine Schandtaten fielen dabei die Worte 

Die Menschen sind sterblich. Sie werden ohnehin, die einen früher, die anderen später, vor den Herrn gerufen. Die guten Bücher aber sind unsterblich, sie muss man behüten.“ 

Don Vincente hauchte kurz nach der Verurteilung sein Leben an der Garrotte aus. 

Das Pitaval

Solche und ähnliche Geschichten, also Kriminalfälle, die irgendwelche Besonderheiten aufweisen, wurden bereits im 18. Jahrhundert gesammelt und für interessierte Leser aufbereitet, denn die eigentliche Kriminalliteratur („Detektivgeschichten“) gab es damals noch nicht. Sie ist erst ein Kind des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts. Diese besondere Literarturgattung wird nach ihrem Begründer François Gayot de Pitaval (1673–1743) „Pitavalliteratur“ genannt. In Deutschland gilt als ihr Begründer der Jurist Paul Johann Anselm von Feuerbach (1775-1833), der Anfang des 19. Jahrhunderts eine Sammlung mit dem Titel „Merkwürdige Rechtsfälle“ herausbrachte. Wer Interesse hat, kann sie in digitalisierter Form leicht im Internet finden. Er war übrigens der Vater des „Feuerbachs“, den einst Karl Marx mit seinen Thesen (Sie wissen schon, „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu verändern.“) beehrte. Bekanntgeworden sind weiterhin insbesondere das „Prager Pitaval“ von Egon Erwin Kisch (dem „rasenden Reporter“) und als ehemaligen DDR-Bürger sind mir natürlich auch die Pitavalgeschichten von Friedrich Karl Kaul (1906-1981) ein Begriff. Heute hat dieses Changre der Film in Form von Fernseh-dokumentationen weitgehend usurpiert. Man denke z. B. in die Serien „Die großen Kriminalfälle“ oder „Kriminalfälle, die die Schweiz bewegten“. Aber zurück zu Büchern. Bücher können die Welt verändern. 

Bücher können die Welt verändern

Eines davon stammt von dem Ermländer Nicolaus Copernicus (1473-1543), dessen Buch „De revolutionibus orbium coelestium“ ich in einer Erstausgabe schon einmal in den Händen halten durfte. Es ist im Besitz des Altbestandes der Zittauer Christian-Weise-Bibliothek.


Man muss eher sagen, „wieder im Besitz“, denn es wurde zu DDR-Zeiten (1988) auf immer noch nicht vollständig aufgeklärte Art und Weise gestohlen, und zwar nicht von einem Nachfolger Don Vincentes, sondern von der Stasi im Auftrag der sogenannten „Kommerziellen Koordinierung“, einer Abteilung des Ministeriums für Außenhandel der DDR mit dem Ziel, über den westlichen Kunstmarkt Devisen für den maroden Staat zu beschaffen. Das Werk von Copernicus war übrigens nicht das einzige Buch, welches auf diese Weise abhandengekommen ist. Zu erwähnen ist auch noch das überaus wertvolle Exemplar einer Handschrift des „Ostfriesischen Landrechts des Grafen Edzard I.“ (um 1518), welches später (1992) wieder auftauchte und von der Bibliothek in Emden erworben wurde (nach einem Rechtsstreit, der in einem Vergleich endete, gehört das Exemplar heute zu jeweils 50% der Christian Weise-Bibliothek und der Johannes-A.-Lasco-Bibliothek Emden). Zum Glück für die Christian Weise-Bibliothek konnte schließlich auch das Buch von Copernicus über diplomatische Bemühungen der Bundesrepublik Deutschland beim Versuch von dessen Veräußerung (2008 brachte eine ähnliche Ausgabe in New-York einen Versteigerungserlös von 2,2 Millionen Dollar) wiedererlangt werden. Doch was macht dieses Buch über seinen bibliophilen Wert hinaus für die ganze Welt so wertvoll? Es liegt an dessen Inhalt und dessen Wirkung, für die Immanuel Kant (1724-1804), der große Philosoph aus Königsberg, einmal den Begriff der "Kopernikanischen Revolution" prägen sollte. Die Positionen der Himmelskörper, wie sie aus den teilweise nach dem kopernikanischen System gerechneten „Prutenischen Tafeln“ folgten, waren ohne Zweifel etwas besser als die Vorhersagen gemäß der 300 Jahre älteren „Alfonsinischen Tafeln“, die auf dem geozentrischen Weltbild Claudius Ptolemäus beruhten. Das lag aber nicht daran, dass das zugrundeliegende Rechenmodell besser war. Vielmehr die Ausgangsdaten waren aktueller und z.T. auch etwas genauer. Das eigentlich Revolutionäre sollte sich jedoch erst einige Jahrzehnte nach Copernicus‘ Tod richtig offenbaren, nämlich der Gedanke, dass die Erde nicht der Mittelpunkt der Welt ist und dass man unter dieser Annahme zu einem Weltbild gelangen kann, welches nicht nur die Phänomene, sondern auch deren physikalische Ursachen zu erfassen vermag. 

Kopernikanische Revolution als Paradigmenwechsel

Der große Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn (1922-1996) spricht nicht ohne Grund von einem Paradigmenwechsel, der entscheidend für die Entwicklung der Naturwissenschaft ab dem ausgehenden 17. Jahrhundert werden sollte. Die eigentliche Arbeit machte freilich erst Johannes Kepler, der auf die ausgezeichneten Beobachtungsdaten eines Tycho Brahe zurückgreifen konnte und erkannte, dass sich die meisten Probleme des heliozentrischen Systems durch die Einführung elliptischer Bahnen und durch die Annahme, dass diese Bahnen mit ungleichförmiger Geschwindigkeit von den Planeten durchlaufen werden, vermeiden ließen. Um so etwas leisten zu können, musste man sich erst einmal gedanklich vom „offensichtlichen“ Geozentrismus lösen, was Tycho Brahe (1546-1601) noch nicht, Galileo Galilei und Johannes Kepler aber entgegen dem Zeitgeist und mit viel innerem und äußerem Kampf gelungen ist. Oder, wie es einmal der berühmte Romancier Victor Hugo (1802-1885) ausgedrückt hat,

Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist“. 

Danach ging es Schlag auf Schlag. Immer mehr Gelehrte griffen zum Fernrohr, um den Himmel zu beobachten. 1675 wurde unter König Charles II. das Greenwicher Observatorium gegründet und John Flamsteed (1646-1719) sein erster „Astronomer Royal“. 1686 legte Isaak Newton (1643-1727) der Royal Society sein Werk „Philosophiae Naturalis Principia Mathematica“ vor, in dem er in Anlehnung an die Geometrie Euklids, wie wir bereits wissen, streng axiomatisch eine mathematische Theorie entwickelt, die später als die „Klassische Mechanik“ bezeichnet werden wird.


Er entdeckt aus der Analyse des dritten Keplerschen Gesetzes das Gesetz der allgemeinen Gravitation und schuf somit die Grundlage für eine physikalische Begründung des heliozentrischen Systems. Und gerade einmal 100 Jahre später war quasi die „Himmelsmechanik“ vollendet und man konnte mit fast beliebiger Genauigkeit die Positionen von Sonne, Mond und Planeten aus wenigen Anfangsbeobachtungen, und, wie man meinte, „für alle Zeiten“, vorausberechnen. Die Etablierung einer neuen Weltsicht, die nicht nur auf die Astronomie beschränkt war, im Zeitalter der Renaissance und der beginnenden Neuzeit, stellte eine grundlegende Zäsur in der Geschichte des Abendlandes dar. Kunst und Wissenschaft begannen sich zu entfalten. Die Wiederentdeckung und Rezeption antiker Werke, ihre Verbreitung und Lehre in den artistischen Fakultäten der aufblühenden Universitäten brachte ein gelehrtes und wissbegieriges Bürgertum hervor. Geographische Entdeckungen, das Aufblühen des Seehandels und eine Neuinterpretation des Christentums taten ihr Übriges. Der Humanismus wurde zu der wesentlichsten Geistesbewegung jener Zeit und die Eliten versuchten aus dem durch Scholastik und Vulgärtheologie geprägtem geistigem Klima des Spätmittelalters zu entfliehen. Mitten in dieser Zeit erschien nun das Werk eines Ermländer Domherrn über die „Umschwünge der Himmelskreise“, welches unter den Fachgelehrten jener Zeit schnell Aufmerksamkeit erregte. Was die Veröffentlichung eines in erster Linie nur für Eingeweihte verständlichen „Fachbuches“ gesellschaftlich bewirkte, hat Friedrich Engels (1820-1895) in seiner „Dialektik der Natur“ sehr prägnant formuliert: 

Der revolutionäre Akt, wodurch die Naturforschung ihre Unabhängigkeit erklärte und die Bullenverbrennung Luthers gleichsam wiederholte, war die Herausgabe des unsterblichen Werkes, womit Copernicus, schüchtern zwar, und sozusagen erst auf dem Totenbett, der kirchlichen Autorität in natürlichen Dingen den Fehdehandschuh hinwarf. Von da an datiert die Emanzipation der Naturforschung von der Theologie.“ 

Grund dafür war, dass letztendlich die Entscheidung zwischen Geozentrismus und Heliozentrismus einer Entscheidung zwischen religiös-idealistischem Weltbild und naturwissenschaftlichem Weltbild gleichkam. Das wurde von der damaligen Amtskirche zu Beginn des 17. Jahrhunderts auch in seiner ganzen Klarheit erkannt und führte zur öffentlichen Verbrennung Giordano Brunos‘ (1548-1600), zur Verurteilung Galileo Galileis‘ vor dem Inquisitionsgericht (1632) und im Jahre 1616 (!) zum Eintrag des „De Revolutionibus …“ in die Liste verbotener Bücher (Index Librorum Prohibitorum), wo es bis zum Jahre 1758 verblieb. Und es führte, wie wir wissen, zu einer Entwicklung, an deren Ende die heutige moderne Wissenschaft mit all ihren Errungenschaften steht. Deshalb sprechen wir auch mit Kant zu Recht von einer „Kopernikanischen Revolution“. 

Industrielle Revolution - Digitale Revolution

Von der „Kopernikanischen Revolution“ war es dann noch ein weiter Weg zur „Digitalen Revolution“, an deren Ergebnissen und technischen Errungenschaften wir uns heute erfreuen dürfen. Sie lässt sich im Gegensatz zur „Kopernikanischen Revolution“ nicht an einer Person festmachen, sondern nur an einer Vielzahl von Einzelentwicklungen und ist in ihrer Bedeutung ungefähr mit der industriellen Revolution – beginnend am Ende des 18. Jahrhunderts – vergleichbar, wo die Dampfmaschine in vielen Bereichen der Industrie die Muskelkraft ersetzte. Was damals die Dampfmaschine war, ist heute der Computer und dazwischen liegen ungefähr 200 Jahre technische Innovation und Schöpferkraft, fußend auf den wissenschaftlichen Erkenntnissen des 19. und 20. Jahr-hunderts. Hier ist insbesondere die von Max Planck begründete Quantentheorie und ihre Anwendungen in der Festkörperphysik / Festkörperelektronik zu nennen, die uns Laser, Mikroschaltkreise, Computer, die flachen Displays unserer Fernseher, PC’s, Tabletts und Smartphones sowie „Roboter“ in allen Formen und Größen bescherten. Niemand wundert sich mehr darüber, dass es so etwas gibt. Und keiner – wenn er die Materie nicht gerade studiert hat - kann einem plausibel erklären, wie das alles funktioniert. Es wird dann zwar schnell mit Begriffen herumgeworfen wie Mikroprozessor, Grafikchip und Taktfrequenz, aber was sie eigentlich „machen“, wie sie hergestellt werden und was bestimmte Fachbegriffe oder Akronyme wie LCD oder TFT eigentlich bedeuten, entzieht sich größtenteils der allgemeinen Erkenntnis. Das ist sicherlich auch nicht weiter schlimm, solange es Leute gibt, die es einfach wissen wollen und die sich deshalb der Mühe unterziehen, das nicht ganz einfache Metier zu erlernen. Denn sie sind es schließlich, denen es obliegt, dass die Entwicklung nicht zum Stillstand kommt und wir „Nutzer“ uns jedes Jahr an einem neuen Smartphone mit noch geileren Funktionsmerkmalen und Apps erfreuen können. Verweilen wir ein bisschen bei den Displays jenseits der Elektronenstrahlröhre und ihrer Funktionsweise. 

LCD - Flüssigkristallanzeigen

Ihre Urform, den meisten von digitalen Armbanduhren her bekannt, ist die LCD-Anzeige, wobei das Akronym „LCD“ für „liquid crystal display“, also Flüssigkristallanzeige, steht. Aber kann es denn so etwas wie „flüssige Kristalle“ überhaupt geben?
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